Europäische Produkthaftung vor grundlegender Änderung

Die europäische Produkthaftungsrichtlinie stammt aus dem Jahr 1985 und prägt seitdem europaweit die verschuldensunabhängige Haftung für Schäden durch Produkte. Sie ist in die Jahre gekommen und wird den heutigen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Am 22.02.2024 hat die Reform im Europäischen Parlament einen wichtigen Meilenstein erreicht. Die anstehenden Änderungen haben es in sich: Erstmals wird es eine Produkthaftung für Software geben, die Verletzung produktsicherheitsrechtlicher Anforderungen wird zur Vermutung eines Fehlers führen und die Haftungsadressaten werden erweitert. Vor allem aber wird es grundlegende Beweiserleichterungen im Zivilprozessrecht geben, die Unternehmen europaweit vor erhebliche Herausforderungen stellen werden. Was genau auf die Unternehmen zukommt, lesen Sie in diesem Beitrag.

Die Änderung einer fast 40 Jahre alten Richtlinie

Die verschuldensunabhängige Haftung für fehlerhafte Produkte ist in Deutschland im Produkthaftungsgesetz geregelt. Dieses Gesetz geht auf die europäische Produkthaftungsrichtlinie von 1985 zurück. Die fast 40 Jahre alte Richtlinie ist längst nicht mehr zeitgemäß. Neue Technologien, immer „intelligentere“ und mit dem Internet vernetzte Produkte, zunehmende Komplexität der Produkte, veränderte Vertriebsstrukturen vom klassischen Einzelhandel hin zum internetbasierten Vertrieb haben die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen immer schwieriger gemacht. Am 22. Februar 2024 haben der Rechts- und Binnenmarktausschuss und der Verbraucherschutzausschuss des Europäischen Parlaments dem mit dem Europäischen Rat und der Kommission ausgehandelten Kompromiss zugestimmt. Als vorläufiger Termin für die Abstimmung im Plenum des Europäischen Parlaments ist der 10.04.2024 vorgesehen. Es ist davon auszugehen, dass hier keine wesentlichen Änderungen mehr am Gesetzestext vorgenommen werden. Nach der Abstimmung im Europäischen Parlament ist mit einer raschen Veröffentlichung im Amtsblatt der EU zu rechnen. Die Richtlinie wird dann 24 Monate nach Inkrafttreten „scharf geschaltet“. Bis dahin müssen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Gesetze entsprechend anpassen.

Erweiterung des Produktbegriffes auf Software

Eine zentrale Änderung der Richtlinie betrifft die Frage, was überhaupt ein Produkt sein kann. Bisher waren dies nur bewegliche Sachen und Elektrizität. Die immer wichtiger werdenden Softwarekomponenten konnten vom Produkthaftungsrecht nicht erfasst werden. Hierin wurde eine erhebliche Schutzlücke gesehen, insbesondere wenn man sich beispielsweise vorstellt, dass Softwarehersteller durch Apps oder Erweiterungen bestehender Software erhebliche Veränderungen in der Art und Weise der Nutzung eines Produkts und damit im Risikoprofil herbeiführen können. Fahrerassistenzsysteme, KI-basierte Software, smarte Technologien, Betriebssysteme, Firmware etc. können in Zukunft als Produkte angesehen werden, und zwar egal, ob diese ein eigenständig "verkörpert" werden oder ob sie über Cloud-Technologien oder als SaaS bereitgestellt werden. Auch digitale Bauunterlagen (z.B. CAD-Dateien als Grundlage für die Herstellung eines Gegenstandes) und sogar Rohstoffe sind künftig Produkte. Diese Erweiterung des Produktbegriffs führt zu einer immensen Ausweitung der Industriekreise, die sich künftig mit dem Thema Produkthaftung befassen müssen.

Erweiterung der Kriterien für die Fehlerhaftigkeit

Die Kriterien, nach denen künftig beurteilt wird, ob ein Produkt fehlerhaft ist, werden erweitert. So werden Aspekte der künstlichen Intelligenz, relevante Anforderungen des Produktsicherheitsrechts, sicherheitsrelevante Anforderungen der Cybersicherheit, Kombinationsrisiken oder behördlich angeordnete Rückrufe zu berücksichtigen sein. Dass nicht mehr nur auf den Zeitpunkt des sog. Inverkehrbringens abgestellt wird, sondern die Verantwortlichkeit so lange bestehen bleibt, wie das Produkt noch unter der Kontrolle des Herstellers steht, ist sicherlich ein durchaus relevanter Aspekt, wenn man bedenkt, dass der Hersteller auch dann verantwortlich bleibt, wenn die Fehlerhaftigkeit des Produkts z.B. auf einem fehlenden Software-Update oder sogar auf der Fehlerhaftigkeit eines Software-Updates selbst beruht.

Ausdehnung der Haftungsadressaten

Nach wie vor haftet in erster Linie der Hersteller, auch der sogenannte Quasi-Hersteller, d.h. derjenige, der seinen Namen oder seine Marke auf dem Produkt anbringt. Ist dieser jedoch nicht in der EU ansässig, können der Einführer, der Bevollmächtigte und auch der sogenannte Fullfilment Dienstleister haftbar gemacht werden. Insbesondere die letztgenannte Kategorie ist in Zeiten, in denen Produkte online im Ausland gekauft und dann durch einen Dienstleister ausgeliefert werden, von großer praktischer Relevanz. Als Hersteller gilt künftig auch, wer ein Produkt wesentlich verändert, was für die gesamte Second-Life-Branche von erheblicher Bedeutung sein wird. Schließlich können unter Umständen auch der Lieferant, Händler und der Betreiber von Online-Plattformen in Anspruch genommen werden.

Beweiserleichterungen von Geschädigten

Da der Gesetzgeber festgestellt hat, dass es mit zunehmender Komplexität der Produkte für den Geschädigten immer schwieriger wird, einen Fehler oder dessen Ursächlichkeit für einen Schaden nachzuweisen, betreffen wesentliche Änderungen der neuen Richtlinie gerade den Bereich der Beweiserleichterungen. Künftig wird es eine Vielzahl von Vermutungen geben, z.B. die Vermutung der Fehlerhaftigkeit, wenn der Geschädigte z.B. nachweist, dass das Produkt nicht den Produktsicherheitsanforderungen der EU entspricht. Die Fehlerhaftigkeit bzw. der Kausalzusammenhang zwischen Fehler und Schaden soll auch dann vermutet werden, wenn die Beweisführung für den Geschädigten aufgrund der Komplexität übermäßig schwierig ist, was bei komplexen Produkten wohl eher die Regel als die Ausnahme sein wird. Schließlich wird die Fehlerhaftigkeit eines Produkts auch dann vermutet, wenn der Verantwortliche (s.o.) seiner Pflicht zur Offenlegung relevanter Beweismittel nicht nachgekommen ist. Siehe dazu unten. All dies führt dazu, dass es für Unternehmen in Zukunft wesentlich schwieriger sein wird, einer Haftung nach der verschuldensunabhängigen Produkthaftungsrichtlinie zu entgehen.

Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln

Eine echte Zäsur im europäischen Prozessrecht stellt die künftig geregelte Offenlegungspflicht von Beweismitteln dar. Auf Antrag des Geschädigten soll der Beklagte verpflichtet werden, die in seiner Verfügungsgewalt befindlichen relevanten Beweismittel offen zu legen. Man kann hier von einer Art „Ausforschung“ sprechen, die es bisher in Europa prozessual so nicht gab. Alles, was der Geschädigte zu tun hat, ist, Tatsachen und Belege vorzutragen, die die Plausibilität seines Schadensersatzanspruchs hinreichend stützen. Man darf gespannt sein, welche Anforderungen die nationalen Gerichte an die Frage der Plausibilität stellen werden. Es steht zu erwarten, dass diese nicht hoch sein werden.

Erweiterung des ersatzfähigen Schadens

Auch bei den zu ersetzenden Schäden wird es Änderungen geben. Bisher hatte der deutsche Gesetzgeber von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Haftung für Schäden aus der Tötung oder Verletzung von Personen auf 85 Mio. Euro zu begrenzen und bei Sachschäden eine Selbstbeteiligung von 500 Euro vorzusehen. Beide Beschränkungen entfallen künftig. Als Schaden gilt künftig auch der Verlust von Daten, die nicht ausschließlich für berufliche Zwecke genutzt werden (z.B. private Urlaubsbilder), wie auch immer diese wertmäßig zu bestimmen sein werden.

Fazit

Mit der neuen Produkthaftungsrichtlinie kommen wesentliche Änderungen auf die europäischen Unternehmen zu. Vor allem aufgrund der erheblichen Beweiserleichterungen wird sich in Zukunft verstärkt die Frage stellen, welche Form der Dokumentation im Unternehmen gefordert ist. Es wird weiterhin ratsam sein, gut durchdachte Qualität auch ausreichend zu dokumentieren. Allerdings wird der Umgang mit interner Korrespondenz, die zur „Smoking Gun“ werden kann, an Bedeutung gewinnen.

 

 
Prof. Dr. Marion Bernhardt
Rechtsanwältin | Partnerin
 

 

Dr. Ulrich Becker
Rechtsanwalt I Partner
 

 

 

Sven Groschischka
Rechtsanwalt | Counsel

 
 

 

 

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